Dr. med. Barbara Hortian: Ja. In den zurückliegenden Jahren wiesen Schlafforscher in zahlreichen Studien nach, dass Gehirn, Psyche und der gesamte Organismus während des Schlafes regenerieren. Während des Schlafes schalten Körper und Gehirn keinesfalls komplett ab, sondern es findet ein hochkomplexer Prozess statt. Während der Nacht durchläuft der Mensch vier bis fünf solcher Schlafzyklen, die jeweils etwa 90 Minuten andauern. Auf den ersten Leichtschlaf folgt eine Tiefschlafphase. Dieser schließt sich eine weitere Leichtschlafphase mit Traumerlebnissen an, die wir als REM-Schlaf bezeichnen. Vor allem während Tiefschlaf und REM-Schlaf erfolgt körperliche, geistige und psychische Regeneration.
Was passiert während der verschiedenen Schlafphasen?
Dr. med. Barbara Hortian: Während des Tiefschlafes baut der Organismus sein Schlafbedürfnis ab und schüttet eine Vielzahl von Hormonen aus (besonders bekannt: das Wachstumshormon), die für Zellreparatur und Immunsystem unentbehrlich sind. Dabei regeneriert der gesamte Organismus. Die REM-Schlaf-Phase ordnet und verarbeitet am Vortag aufgenommene Informationen und eigene Emotionen, sodass Unwichtiges vergessen und Wesentliches im Gedächtnis gespeichert wird. Damit besitzt der REM-Schlaf große Bedeutung für die psychische Stabilität.
Warum werden wir müde?
Dr. med. Barbara Hortian: Wie viele andere Prozesse, die im Organismus ablaufen, steuern auch diesen Rhythmus bestimmte Hormone. Abends und nachts produziert unser Körper in der Zirbeldrüse (Epiphyse) des Gehirns das „Schlafhormon“ Melatonin - allerdings nur bei Dunkelheit. Dank dieses Hormons ermüden wir und sinken entspannt in den Schlaf. Außerdem lässt die Ausschüttung von Melatonin Körpertemperatur, Pulsschlag und Atemfrequenz sinken. Auch unsere „innere Uhr“ hängt damit eng zusammen: Wo sich hinter der Stirn die Sehnerven kreuzen, befindet sich der sogenannte Nucleus suprachiasmaticus, ein Nervenknoten, der entsprechend dem Lichteinfall den natürlichen Schlaf-wach-Rhythmus steuert. Registriert die Netzhaut, dass es wieder hell wird, stoppt die Melatonin-Produktion und wir erwachen.
Also hat es jeder selbst in der Hand, gut zu schlafen?
Dr. med. Barbara Hortian: Natürlich gibt es Schlafstörungen mit tieferen Ursachen. Doch grundsätzlich ist es schon so, dass zu einem gesunden Schlaf Selbstdisziplin gehört. Muss man zum Beispiel wirklich bis spät in die Nacht vor dem Computer sitzen? Braucht man im Schlafzimmer die ständige Erreichbarkeit übers Smartphone oder ein eingeschaltetes Fernsehgerät? Fragen wie diese sollte sich jeder stellen, der mit Schlafproblemen kämpft oder morgens keinesfalls gut erholt aus dem Bett aufsteht. Schlaf ist eben kein notwendiges Übel, sondern trägt entscheidend zu innerer Balance und Gesundheit bei.
Wieviel Schlaf braucht der Mensch?
Dr. med. Barbara Hortian: Die unbedingte Fixierung auf eine tägliche Mindestschlafzeit und ein quasi „Erzwingen“ von Schlaf ist oft sehr kontraproduktiv. Nicht jeder Mensch benötigt unbedingt sechs bis acht Stunden Schlaf, da gibt es schon große Variabilität. Im Alter zum Beispiel benötigt man zwar nicht unbedingt weniger Schlaf, aber der Schlaf zerfällt wieder in mehrere Episoden - wie beim Kleinkind. So würde ich älteren Menschen auch nicht unbedingt den Mittagsschlaf ausreden wollen. Sie sollten allerdings danach nicht erwarten, nachts von 22 bis 6 Uhr schlafen zu können. Förderlich wäre, entsprechend später zu Bett gehen oder eben nicht enttäuscht zu sein, schon „mit den Hühnern“ zu erwachen. Und sicher erinnert sich jeder daran, wie es war, jung und verliebt zu sein: Hat man da nicht auch manchmal eine sehr kurze Schlafzeit gehabt und dennoch - so voller positiver Gefühle - sein Tagespensum gut geschafft!?
Schlaf als wichtiger Beitrag zur Gesundheit …?
Dr. med. Barbara Hortian: Wir wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen schlechtem Schlaf und verschiedenen Erkrankungen gibt. So besteht nachweislich eine enge Wechselbeziehung zwischen Schlafstörungen und Depressionen als Spätfolge. Umgekehrt kann eine Schlafstörung aber auch erstes Symptom einer sich anbahnenden Depression sein. Die anfangs nur angedeuteten hormonellen Prozesse während des Schlafes sind tatsächlich viel komplexer. Gibt es hier Defizite oder Störungen, kann dies die Entstehung von Adipositas, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Nicht zuletzt schwächt zu wenig oder zu unruhiger Schlaf das Immunsystem, was wiederum eine höhere Infektanfälligkeit zur Folge haben kann. Denken wir an den wichtigen Einfluss des Schlafes auf die Psyche, so liegt es außerdem auf der Hand, dass man dauerhaft unausgeschlafen auch insgesamt nicht wirklich fit und entscheidungsfähig ist - damit tut man sich im Alltags- und Berufsleben sicher selbst keinen Gefallen.
Wohin mit Schlafproblemen?
Dr. med. Barbara Hortian: Zuerst natürlich zu Hausärztin oder Hausarzt, wo Vorerkrankungen und Lebensstil bekannt sind. Lassen sich psychische Belastungen, Erkrankungen oder Medikamenteneinnahmen als Ursache der Schlafprobleme ausschließen und sich auch bei weitergehender Diagnostik keine Erklärungen finden, wird es eine Überweisung zum Facharzt geben. Vorher sollte jedoch eine Beratung zur Schlafhygiene erfolgt sein: Ist mein Schlafplatz ruhig, kühl genug, abgedunkelt und verfügt über eine angenehme Matratze? Nehme ich am Abend keine schweren Mahlzeiten ein? Lasse ich den Tag ruhig und allmählich ausklingen? Halte ich bestimmte Schlafrituale regelmäßig ein? Auch große körperliche Anstrengungen oder emotional belastende Situationen unmittelbar vor dem Schlafengehen sollten vermieden werden. Ein probates Hilfsmittel, um schlechte Gedanken während langer Wachzeiten in der Nacht zu vertreiben, ist übrigens das Hören von Hörbüchern.